Zementstaub auf Blumenfeldern

Von Andreas Boueke · · 2014/03

In der Nähe von Guatemala-Stadt entsteht die größte Zementfabrik Mittelamerikas. In den umliegenden Dörfern regt sich Widerstand.

Ihren Namen möchte sie nicht sagen. Nennen wir sie Valeria, die Mutige. Das passt. „Wir werden verfolgt und angefeindet“, sagt sie. „Das passiert nicht nur in Guatemala-Stadt, sondern auch in unseren Dörfern. Wenn sie deinen Namen kennen, beginnen die Einschüchterungen.“

Die Siebzehnjährige stammt aus dem Mayavolk der Kakchiquel. Sie lebt in Santa Fe Ocaña, keine zwei Stunden Autofahrt von der Hauptstadt entfernt. Der Weg führt über eine Schotterpiste entlang einer Hügelkette, auf der vor kurzem der Bau einer Zementfabrik begonnen hat.

Die meisten der älteren EinwohnerInnen des Dorfes sind nie in die Schule gegangen. Die junge Generation hat größere Chancen auf Bildung. Valeria hat gerade die Schule abgeschlossen. Sie würde gerne Jus studieren, um als Rechtsanwältin ihre Gemeinde gegen Übergriffe und Rassismus verteidigen zu können. Das Vertrauen ihrer Nachbarin Olinda Katok hat sie jetzt schon. Die alte Frau sitzt in ihrer kleinen Küche, einem Raum mit verrußten Wänden aus Lehmziegeln, in dessen Mitte ein offenes Feuer brennt. Der Rauch verteilt sich in jeden Winkel der Hütte. Als eine der ersten Frauen hat sich Olinda Katok der Protestbewegung gegen den Bau der Zementfabrik angeschlossen. Sie kennt Valeria seit Jahren. „Valeria kann gut reden. Sie ist ja in die Schule gegangen. Mittlerweile gibt es mehrere Frauen, die Interviews geben können. Wir dürfen keine Angst haben. Wir müssen sprechen, nur so können wir unser Recht durchsetzen.“

Es geht um den Bau der größten Zementfabrik Mittelamerikas. Ab 2017 sollen dort jährlich 2,4 Millionen Tonnen Zement produziert werden. Der Konzern Cementos Progreso hat schon vor sieben Jahren mit den Bauvorbereitungen begonnen. Die AnwohnerInnen der Umgebung fürchten, dass durch die Zementproduktion bald die Luft, das Wasser und ihre Äcker verschmutzt werden.

Valerias Familie lebt von der Landwirtschaft, so wie die meisten Menschen in der Gegend. Viele haben sich auf ein Produkt spezialisiert: Blumen. „Mein Vater baut Rosen an, Nelken, Chrysanthemen und auch Gemüse“, erzählt Valeria. „Damit verdienen wir das Geld, das die Familie braucht. Doch in letzter Zeit können wir immer weniger produzieren, weil das Wasser knapp wird.“

Anfangs haben die BewohnerInnen der zwölf umliegenden Dörfer den Dialog mit der Konzernführung gesucht. Ein runder Tisch wurde eingerichtet. Der hat es der Firma leicht gemacht, die Wortführer zu identifizieren. Wenige Tage später wurden mehrere Männer festgenommen. Einige blieben über ein Jahr lang im Gefängnis, ohne Anklage. Daraufhin reagierten viele DorfbewohnerInnen mit Wut. Sie organisierten Protestmärsche und errichteten Straßensperren, um die Fortsetzung der Bauarbeiten zu verhindern. Der Konflikt eskalierte. „Ich habe mich an einem 14. Dezember dem Kampf angeschlossen“, erinnert sich Valeria. „Das war der Tag, als die Polizei das erste Mal unsere Dörfer überfallen hat. Sie haben den Frauen gesagt, sie sollten ihre Röcke hochheben und ihre Hemden ausziehen. Sie sagten, sie würden nach Waffen suchen, aber wir haben keine Waffen.“

Heute koordiniert Valeria die Öffentlichkeitsarbeit des örtlichen Entwicklungskomitees. Dabei sieht sie sich in der Tradition des Widerstands ihrer Vorfahren. Seit der spanischen Invasion vor fünfhundert Jahren leidet die indigene Bevölkerung Mittelamerikas unter Ausbeutung und Unterdrückung. „Es geht mir um die Verteidigung der Rechte meines Volkes, unserer Territorien. Mich motiviert, dass so viele Männer und Frauen dafür ihr Leben geopfert haben. Wenn ich ihre Geschichten höre, dann frage ich mich: Wieso kann ich nicht auch für mein Volk arbeiten? Wenn ich es nicht tue, wer tut es dann?“

Cementos Progreso ist eines der ältesten Industrieunternehmen Lateinamerikas. Über hundert Jahre lang hat der Konzern den Zementhandel in Guatemala monopolisiert. Die Besitzerfamilie Novella gehört zu den mächtigsten und reichsten des Landes. Eric Zepeta ist leitender Angestellter. Auf seiner Visitenkarte steht: „Direktor für nachhaltige Entwicklung“. Von seinem Schreibtisch im sechsten Stock der Konzernzentrale in Guatemala-Stadt aus kann er auf ein exklusives Stadtviertel blicken. In einigen Gärten sieht man Schwimmbecken. In weitläufigen Hauseinfahrten parken teure Autos.

Eric Zepeta und die anderen Mitglieder der Firmenleitung sind es nicht gewohnt, dass ihre Entscheidungen in Frage gestellt werden, schon gar nicht von den BewohnerInnen eines armen Mayadorfes in den Bergen. Der Geschäftsmann tritt selbstsicher auf. Umweltschutz bezeichnet er als eine der Prioritäten seines Unternehmens. „Wir wollen eine Anlage mit der modernsten Technologie bauen. Wir werden die weltweit striktesten Normen in Sachen Umweltschutz einhalten.“

Erst seit wenigen Jahren steht Naturschutz auf der Agenda der guatemaltekischen Politik. Noch gibt es nur wenige Gesetze, und deren Einhaltung wird sehr lax überprüft. Eric Zepeta aber hat keine Vorbehalte: „Unsere Pläne sind sehr positiv für die Entwicklung der Region. Es geht uns um Wiederaufforstung. Dann kommt auch das Wasser zurück. Wir haben nie wirklich verstanden, warum die Leute so viel Angst haben. Wir haben die Zukunft das Landes im Blick und die Entwicklung der Nation. Wir respektieren die Kultur von allen, denn wir alle sind Guatemalteken.“

Valeria bezweifelt, dass sich die Leute von Cementos Progreso wirklich für den Umweltschutz und die Lebensbedingungen der Menschen in den Mayadörfern interessieren: „Dieses Entwicklungsmodell passt nicht zu uns. Es entspricht ihrem Denken, das wir übernehmen sollen. Aber uns geht es um den Zusammenhalt der Gemeinde, um Harmonie und die Möglichkeit, unsere Blumen zu produzieren, unser Gemüse. Wir wollen weiter hier leben können, mit genügend Wasser.“

Der Konzern hat das Gelände, auf dem die Zementfabrik gebaut werden soll, einem Großgrundbesitzer abgekauft. Früher gab es dort einen Wald, in dem die Leute Feuerholz, Kräuter und Beeren sammeln konnten. Heute sind die Hügel abgeholzt.

Während der Fahrt zu dem Baugelände kauert sich Valeria tief in ihren Sitz und legt ein Tuch über ihr Haar. Sie möchte vermeiden, dass das bewaffnete Sicherheitspersonal der Firma sie erkennt. Die Männer patrouillieren auf der Straße. „Wir fahren jetzt durch das Gebiet der Zementfabrik“, sagt Valeria. „Hier war vor sechs Jahren noch alles voller Bäume. Jetzt ist der Wald weg. Sie haben ihn abgeholzt, um die Zementfabrik bauen zu können.“

Valeria schaut aus dem Fenster. Trotz der offensichtlichen Waldzerstörung findet sie nicht, dass der Kampf der zwölf Dörfer gegen den mächtigen Konzern völlig erfolglos war. „Wir haben es geschafft, die Bauarbeiten aufzuhalten. Ohne unseren Kampf würden hier schon heute die 36 Mineralien abgebaut werden, nach denen sie suchen.“ Die DorfbewohnerInnen fürchten, dass der Konzern nicht nur Zement herstellen will. In benachbarten Gebieten werden schon längst Metalle abgebaut, unter anderem Nickel, Silber und Gold. Dabei kommen giftige Chemikalien zum Einsatz, die das Grundwasser verschmutzen. Aber die Verantwortlichen von Cementos Progreso bestreiten, dass sie nach Mineralien schürfen wollen.

Valeria kämpft nicht nur gegen die Zementfabrik. Sie meint, die ganze Gesellschaft müsse verändert werden. Frauen wie Valeria, die aufbegehren, werden oft zu Opfern von Gewalt. In Guatemala werden täglich durchschnittlich drei Frauen umgebracht. Selbst die Staatsanwaltschaft spricht mittlerweile von einem Femizid.

Über die Hälfte der Bevölkerung Guatemalas gehört zu den Maya. Die meisten leben weitgehend ausgeschlossen von politischer und wirtschaftlicher Macht. Wer sich auflehnt, riskiert Repression und Gewalt. „Wir nennen das ‚schwarze Kampagnen‘“, erklärt Valeria. „Einmal sind in meinem Dorf Flugblätter mit meinem Namen aufgetaucht. Mit Verleumdungen und Drohungen. Die Flugblätter haben mich sehr erschreckt. Meine Kameraden haben mir geholfen. Sie haben mir gesagt: ‚Schau mal, so ist das eben. Das wird wieder passieren. Vergiss deine Angst einfach. Von jetzt an werden sie dich immer wieder angreifen‘.“

„Das alles hat uns noch mehr zusammengeschweißt“, sagt Valeria. Wenn wir ein Seminar durchführen, oder eine Bildungsveranstaltung, dann machen alle Gemeinden mit.“ Neben Valeria gibt es noch weitere junge Frauen, die sich in der Bürgerinitiative engagieren. Die vierundzwanzigjährige Norma ist beeindruckt von ihrer Freundin: „Valeria kann auch fröhlich sein und Scherze machen. Aber in dieser Situation ist das Leben ein bisschen schwieriger. Deshalb sehen wir die Dinge mit mehr Ernst. In unserem Kampf hat sie schon einiges erleiden müssen: Ich denke, all das hat sie früh erwachsen werden lassen.“

Valeria winkt ab: „Manchmal sagen mir die Leute, ich sei so mutig. Aber ich selbst erlebe das ganz anders. Es geht mir darum, das zu tun, was ich fühle, wenn ich mich in dieser Welt umschaue. Ich trage meinen kleinen Teil zur Veränderung bei, weil ich spüre, dass ich das Richtige tue. Ich möchte nicht, dass meine Gemeinde weiter unterdrückt wird.“

Andreas Boueke stammt aus Deutschland und lebt seit knapp 15 Jahren als freier Journalist und Buchautor in Guatemala.

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